Schlagworte: System, Systematiker, Wissenschaft
„Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.“
Friedrich Nietzsche (Werk: Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile, Aph. 26)
355 Stimmen:
LIEBE 27.08.2010, 14:01 Uhr
Versteh ich leider garnicht gerade.
Wie könnte das Nietzsche wohl gemeint haben?
Vielleicht lag es an seiner 'Hammer Philosophie'
oder fing hier schon an sein Gehirn sich zu zersetzen.
Neumann 27.08.2010, 15:21 Uhr
Für Nietzsche hat die "Wahrheit ... ein ewig wechselndes Gesicht" (wie Kafka dazu sagt). Nimmt man es mit seinem Vorbild Schopenhauer, dann ist alles, was System ist, dem "Satz vom Grunde" unterlegen, d.h. Raum-Zeit- und Kausalgesetzen unterworfen. Das ist aber nicht der eigentliche Weltantrieb; das systematisch Erfassbare ist nur der "Schein", den wir erkennen kraft unseres Hirns. Das "Ding an sich", das Kant als unerkennbar ausgab, ist für Nietzsche bzw. Schopenhauer aber der "Wille zum Leben", so eine Art metaphysischer Dauerantrieb, der sich gegen alle Systeme sträubt, weil er dauernd schafft und vernichtet...so wie die Natur, wo auch alles dauernd stirbt und neugeboren wird...und nichts identisch bleibt...so in etwa. Daher ist jede Behauptung des Identischen (das System) eine lebensabgewandte Abstraktion, die eben nicht recht-schaffend ist...nicht schöpferisch dynamisch also, sondern statisch.
Neumann 27.08.2010, 15:28 Uhr
In diesem Sinne versuche man mal die Texteaussagen Franz Kafkas in ein System zu packen. Das geht auch immer schief...es bedeutet immer gleichzeitig noch was anderes und zugleich auch nicht so ganz. Der Wille zum geschlossenen System ist bei Kafka eben programmatisch aufgehoben...also "rechtschaffend" im Sinne Nietzsches.
Neumann 27.08.2010, 15:36 Uhr
Ein systemverweigerndes Kafka-Beispiel noch am Ende (Ausschnitt):
"Die Sorge des Hausvaters
Die einen sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen und sie suchen auf Grund dessen die Bildung des Wortes nachzuweisen. Andere wieder meinen, es stamme aus dem Deutschen vom Slawischen sei es nur beeinflußt. Die Unsicherheit beider Deutungen aber läßt wohl mit Recht darauf schließen, daß keine zutrifft, zumal man auch mit keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden kann.
Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen, wenn es nicht wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek heißt. Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinandergeknotete, aber auch ineinanderverfitzte Zwirnstücke von Verschiedenster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen.
Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher irgendeine zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein; wenigstens findet sich kein Anzeichen dafür; nirgends sind Ansätze oder Bruchstellen zu sehen, die auf etwas Derartiges hinweisen würden; das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen. Näheres läßt sich übrigens nicht darüber sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist.
..."
LIEBE 27.08.2010, 18:46 Uhr
Vielen Dank für die doch recht ausführliche Antwort.
Und das fand ich dann auch noch; diesen Vor-satz des Zitates > "Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg".
Na, da finde ich aber das er eine viel zu pessimistische Sicht auf das System entwickelt hat.
Vielleicht hätte er ja mit einm feineren Werkzeug erkannt dass die Systematik eine wahrhaftige Harmonie schaffen kann, obendrein hatte er ja auch die Position gegen die Metaphysik zu neigen.
Naja, mit Nietzsche müssen wir ja alle (mehr od. weniger) auskommen.
Marinne 27.08.2010, 18:52 Uhr
Nietzsche verbindet mit dem "System" das Grundvorurteil, dass ihm Ordnung und Übersichtlichkeit anhaften und daher das Systematische als wahres Sein identifiziert wird. Aus der Sicht Nietzsches ist dieses Denken nicht rechtschaffen, da es die "schematischen Köpfen mit ihren Kategorientafeln" und die, die Ungewissheit nicht ertragen können,zur "Starrheit" drängt. Insofern muss Nietzsche das "Systembewusstsein" aus Wahrhaftigkeit verwerfen.
Marinne 27.08.2010, 18:54 Uhr
...Köpfe
Zenpoetin 07.09.2010, 14:22 Uhr
Ich denke mal, er meinte, dass Menschen Systeme errichten, die das Recht vereinfachen sollen, aber dazu missbraucht werden, Unrecht zu stiften, wenn man nach Schema F vorgeht.
Tatsächlich ist jede Angelegenheit komplex und kann nur nach Abwägen aller Umstände entschieden werden - aber das wollen nur rechtschaffene Naturen.
Knut Hacker 07.09.2010, 16:08 Uhr
Neumann,
deine Interpretation des Ausgangszitates gefällt mir gut.Lediglich ergänzend möchte ich noch auf zwei Gesichtspunkte hinweisen:
Nach den Ergebnissen der Chaosforschung sind Systeme lediglich geistige Krücken.Gleiches ergibt sich erkenntnistheoretisch auch aus der Quantenphysik, insbesondere der Quantenverschränkung.
Wer sich die bloße geistige Orientierungsfunktion von Systemen nicht eingesteht,, sondern Systeme verabsolutiert,unterliegt entweder einem Wunschdenken, oder er ist geistig unredlich. Letzteres hat wohl Nietzsche mit seinem Ausgangszitat gemeint, welches ja ein moralisches Urteil enthält.
Der zweite Gesichtspunkt ist dir als Kafkakenner wohl nicht neu. Im folgenden Stück kann man wohl für das „Allgemeine“ das System und für die „Kleinigkeit“ die Komplexität setzen.Dann handelt das Stück vom vergeblichen Versuch, die Komplexität des Seins in Sinn zu fassen.Aber man soll ja Kafka nicht interpretieren, er hat sich das ausdrücklich verbeten (vergleiche im übrigen auch: „Richtiges Auffassen einer Sache und Missverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus.“)
Franz Kafka: Der Kreisel
Ein Philosoph trieb sich immer dort herum, wo Kinder spielten . Und sah er einen Jungen, der einen Kreisel hatte, lauerte er schon. Kaum war der Kreisel in Drehung, verfolgte ihn der Philosoph, um ihn zu fangen. Dass die Kinder lärmten und ihn von ihrem Spielzeug abzuhalten suchten, kümmerte ihn nicht, hatte er den Kreisel, solange er sich noch drehte, gefangen, war er glücklich, aber nur einen Augenblick, dann warf er ihn zu Boden und ging fort. Er glaubte nämlich, die Erkenntnis jeder Kleinigkeit, also zum Beispiel auch eines sich drehenden Kreisels, genüge zur Erkenntnis des Allgemeinen. Darum beschäftigte er sich nicht mit den großen Problemen, das schien ihm unökonomisch. War die kleinste Kleinigkeit wirklich erkannt, dann war alles erkannt, deshalb beschäftigte er sich nur mit dem sich drehenden Kreisel. Und immer wenn er die Vorbereitungen zum Drehen des Kreises gemacht wurden, hatte er Hoffnung, nun werde es gelingen, und drehte sich der Kreisel, wurde ihm im atemlosen Lauf nach ihm die Hoffnung zur Gewissheit, hielt er aber dann das dumme Holzstück in der Hand, wurde ihm übel und das Geschrei der Kinder, das er bisher nicht gehört hatte und das ihm jetzt plötzlich in die Ohren fuhr, jagte ihn fort, er taumelte wie ein Kreis unter einer ungeschickten Peitsche.
NB.:Auch ich bin Kafka- fan. Ich sehe übrigens viele Parallelitäten zu Karl Valentin. Was meinst Du dazu? Kafka gilt als „dunkel “.Man lese aber beispielsweise nur die grotesk-heiteren Szenen im fünften Kapitel des „Schlosses“! Umgekehrt gilt Valentin als Humorist. Sein Humor ist aber tiefschwarz..
Knut Hacker 21.09.2010, 18:55 Uhr
Hallo Ihr,
ich habe ein Problem. Vielleicht könnt ihr mir weiterhelfen? Wenn man hier unter vielen Threads schreibt und in diesem Forum von Antworten nicht benachrichtigt wird, wie soll man sich da in angemessener Zeit vergewissern, ob solche eingegangen sind? Ich habe bisher immer die http´s gespeichert und abgefragt.Bei der Vielzahl der Beiträge ufert das jedoch aus.Man kann zwar bei jedem Bild an der linken Leiste ablesen, welche neue Antworten eingegangen sind. Aber insbesondere wenn man länger nicht dazu kommt, sie abzurufen, wird die Sache wiederum sehr zeitaufwändig.
Wie macht Ihr denn das?
Ingrid Z 21.09.2010, 22:30 Uhr
@Knut Hacker, komme aus beruflichen Gründen oft auch tagelang nicht dazu, das Forum zu besuchen. Wenn du deine Beiträge zu den Zitaten irgendwie gespeichert hast, musst du eben betr. Zitat heraussuchen, dann siehst du, welche Beiträge zwischenzeitlich eingegangen sind.
Allerdings überlasse ich selbst das dem Zufall, wenn das Zitat wieder einmal auftauchen sollte.
Etwas schwieriger ist es mit den altväterlichen Sprüchen, denn da gibt es hunderte, bzw. rausende - und da das Betreffende herauszufinden, das wäre wirklich zeitaufwändig.
Knut Hacker 22.09.2010, 20:35 Uhr
Ingrid,
vielen Dank. Es ist tröstlich, dass ich mit meinem Problem nicht allein bin.
Marinne 22.09.2010, 20:55 Uhr
@Knut Hacker, deine Beiträge sind, da du ja Mitglied bist, hier chronologisch gespeichert.
Du brauchst doch nur deinen Namen über einem beliebigen Kommentar von dir anklicken und dann kannst du doch alle deine Kommentare aufrufen. Nur bei Nichtmitgliedern ging das nicht. Aber ohne Glieder geht`s ja hier nicht mehr....Oder habe ich das Problem nicht verstanden?
Knut Hacker 22.09.2010, 21:26 Uhr
Marinne,
auch dir vielen Dank. Aber aus der Speicherung meiner Beiträge ergibt sich ja nicht, ob Antworten eingegangen sind. Mir geht es um die zeitaufwändige Abruferei.Früher wurde die Diskussion innerhalb eines oder weniger threads geführt.Jetzt verzettelt sich alles durch die täglich mitgeteilten Zitate,wobei mir noch unklar ist, ob diese neu eingestellt worden sind oder aus dem Bestand stammen.
Ich selbst habe mir eine riesige Zitatensammlung zugelegt. Einige davon wollte ich hier einstellen. Zum Beispiel die bekanntesten von Kafka. Sie wurden aber-trotz erscheinenden Dankes - kommentarlos nicht angenommen. Das kann in diesem Falle nicht am Urheberrechtsschutz liegen.
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